AG – SCHREIBWETTBEWERB
Siegertext 2016
DIE ROSE von Kim Kaufmann
Mit den Händen in den Taschen meines verdreckten und löchrigen blauen Sweatshirts und der Kapuze auf dem Kopf, die mein Gesicht in tiefe Schatten legte, schlenderte ich über den kaputten Asphalt der einzigen noch existierenden Straße. Mich umgab heiße und staubige Luft, die mir durch ihre braune Dichte nicht nur die Strahlen der Sonne, sondern auch die Sicht auf meine Umgebung verwehrte. Doch auch ohne wahrzunehmen, was mich umgab, wusste ich trotzdem, was sich hinter der dichten Wand aus Staub und Luftverschmutzung befand. Die Ruinen von ehemaligen Wohnhäusern und öffentlichen Einrichtungen, die tot und leer nebeneinander standen und an eine längst vergangene Zeit erinnerten. Wo früher Fröhlichkeit und Lebensfreude geherrscht hatten, war jetzt nur noch Stille und Einsamkeit, bedeckt mit braunem Staub. Die Menschen, die hier gelebt hatten, waren längst fort, sie waren vor dem erstickenden und alles verschlingenden Staub geflohen. Der Staub war vor etwa zehn Jahren aufgetaucht, alsdie Menschheit fast alle Wasservorräte aufgebraucht und ihren zerstörerischen Krieg um Wasser begonnen hatte. Natur wurde achtlos durch Waffen zerstört und das Wasser durch den Mangel der Erde entzogen. Da nun weder Pflanzen noch Wasser die Erde zusammen halten konnten, wurde die trockene Oberfläche vom Wind in die Luft und Atmosphäre getragen und so entstand die Wand aus Staub, die sich mit der durch den Krieg entstandenen Luftverschmutzung zu einer unaufhaltsamen Katastrophe entwickelte, welche sich auf der ganzen Welt ausbreitete. Der Krieg endete, da die Wand das Kämpfen unmöglich gemacht hatte. Die Menschen, die den Durst und den Krieg überlebt hatten, flohen aus ihren zerstörten Häusern und verkrochen sich in steinerne Höhlensysteme unter der Erde.Ich bin einer der Menschen, die sich gerettet haben. Ich wurde als einer der Jungen nach draußen geschickt, um nach Vorräten zu suchen. So war ich unterwegs in die nächste Stadt, in der andere Überlebende wohnten, um mir auf gewaltsame Weise das zu holen, was jedem zustand. Wasser. Doch das Wasser war nicht meine höchste Priorität. Das, was ich suchte, war viel begehrter unter uns jungen Menschen. Es war Farbe. Seitdem der braune Staub aufgetaucht war, hatte alles seine Farbe verloren. Die einzige Farbe, die ich seit zehn Jahren gesehen hatte, war braun. Der Gedanke, endlich wieder Farben sehen zu können, ließ mich schneller laufen, sodass ich die spitzen Steine durch meine abgetragenen Schuhe spüren konnte. Nach ein paar Schritten hörte die Straße ganz auf und meine Füße berührten braunes Ödland, doch so abgelenkt durch die Erinnerungen an die farbenfrohe Welt merkte ich nicht, wie ich die Straße verließ. Lange lief ich weiter in das Ungewisse, bis ich, als meine Euphorie verschwand, feststellte, dass meine Füße schon längst keine Steine mehr fühlten. Verwirrt starrte ich auf den Boden und entdeckte lehmfarbene Erde. Panisch blickte ich auf, schaute umher und sah nichts als Braun. Ich hatte mich verlaufen. Mein Atem ging schnell, wodurch ich den mich umgebendenDreck einatmete und dieser mich dadurch hustend um Luft ringen ließ. Ich zwang mich, als sich meine Bronchien beruhigt hatten, langsam ein-und auszuatmen und logisch zu denken. „Wenn ich in die Richtung zurückgehe, wo ich herkam, werde ich sicher die Straße wiederfinden“, dachte ich laut und ging in irgendeine Richtung in den braunen Nebel, da ich mich nicht entsinnen konnte, aus welcher Richtung ich gekommen war. Der Sturm aus Dreck und anderen Verschmutzungen machte es mir schwer auszumachen, wohin ich ging, da ich keinen Orientierungspunkt wie eine Straße besaß. Ich verlor ebenfalls das Gefühl für Zeit. Ich hätte Stunden, Tage oder Monate so herumlaufen können, wenn ich nicht etwas Ungewöhnliches im Braun gesehen hätte. Es war etwas anderes. Ein andererFarbton, verschwommen und fast verloren in der dreckigen Mischung, die sich Luft nannte. Ich konnte nicht ausmachen, was für eine Farbe sich dort in der Ferne befand, doch wie in einem Bann gefangen, fixierte sich mein Blick auf diesen Punkt und meine Beine bewegten sich wie von alleine schlurfend über den trockenen Boden, der plötzlich mit etwas Weichem bedeckt war. Doch ich beachtete diese Besonderheit nicht und lief einfach geradeaus in das Unbekannte. Kurz bevor ich das Ziel meiner Begierde jedoch erreichte, blieb mein Fuß an der weichen Substanz am Boden hängen und brachte mich aus dem Gleichgewicht. Mit einem lauten Aufschrei fiel ich nach vorne und da sich meine Hände immer noch in meinen Taschen befanden, war ein Auffangen unmöglich. So landete ich mit voller Wucht auf dem Boden, wobei mein Kopf als erstes auftraf und sich mein Körper erst ein paar Millisekunden später hinzugesellte. Betäubt durch den Schmerz schloss ich die Augen und keuchte auf. Erst als der Schmerz leicht nachließ, spürte ich etwas Spitzes und Kratziges an meiner Wange. Verwirrt, da es sonst nichts in der Einöde gab, hob ich meinen pochenden Kopf, drehte ihn in die Richtung des Gegenstandes und öffnete die schmerzenden Augenlider. Lange, nur leicht verwelkte Halme einer Graspflanzebefanden sich in meinem Blickfeld und als ich meine Arme unter meinem Körper hervorholte und meinen Oberkörper aufrichtete, erblickte ich noch mehr solcher Pflanzen. Mein Blick folgte dem Gras und es führte ihn zu dem großen weißen Skelett eines Baumes. Man sah dem Baum an, dass er schon vor Ewigkeiten, vor der Katastrophe, schön gewesen sein musste. Doch die Abwesenheit der grünen Blätter ließ den Baum in einem leuchtenden Weiß erstrahlen, so dass mir der Mund offen stehen blieb. Doch etwas anderes zog schließlich meine Aufmerksamkeit auf sich. Der Baum besaß in seiner Mitte ein großes Loch, das einem den Blick in das Innere der Gehölzes ermöglichte. Aber anstatt weiterem morschen, weißen Holz, das man dort erwarten hätte können, befand sich etwas anderes darin. Von meiner Position aus entdeckte ich nur ein schwaches Rot. Doch die pure Erkenntnis, etwas Farbiges entdeckt zu haben, ließ mein Herz schneller schlagen. Meine Schmerzen waren plötzlich wie vergessen und ich stieß mich mit den Händen vom Boden ab.Schwungvoll rappelte ich mich auf und klopfte meine dreckigen Hände an meinem eh schon verschmutzten Sweatshirt ab. Aufgeregt und doch vorsichtig ging ich also durch das trockene Gras zum Fuß des Baumes. Das Loch befand sich auf der Höhe meines Gesichtes und dessen Inhalt war durch den Mangel von Licht aufgrund der verdeckten Sonne schwer zu erkennen, doch ich erkannte das Gesehene sofort. In diesem Baumskelett inmitten einer Einöde, bedeckt mit braunem, staubigen Nebel, befand sich wahrhaftig eine fast unversehrte Rose. Sie hatte ihre braunen Wurzeln in den Baum geschlagen und war im Schatten des Loches gewachsen. Ihr Stängel war von einem gelblich grünen Ton und ihre Dornen waren tief grau. Man sah ihr den Wasser-und Nährstoffmangel an, doch dies schien die Blüte noch nicht erreicht zu haben. Sie war von einem so tiefen Rot, dass man hätte glauben können, die Blume hätte sich von dem Blut eines Lebewesens genährt. Ihre Blütenblätter sahen aus, als wären sie vor zehn Jahren in der Zeit stehen geblieben. Nur etwas Staub hatte sich auf der Oberfläche gesammelt, doch dieser wirkte nicht dreckig, so wie der, der mich umgab, sondern wie Sternenstaub von einer fremden Galaxie. In der Gegenwart dieser Pflanze fühlte ich mich so, als wären all der Krieg und das Leid nie passiert und das ließ mich das trübe Grauen um mich herum für ein paar Minuten vergessen. Verträumt hob ich meinen linken Arm in das dunkle Loch und strich den Staub von der Rose. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, als ich erkannte dass doch nicht alles verloren war. Denn wenn diese kleine Rose überleben konnte, dann konnten es die Menschen vielleicht auch. Ich spielte gerade mit dem Gedanken, ein Blütenblatt als Glücksbringer abzureißen, als ich jemanden in der Ferne meinen Namen rufen hörte.Verwirrt drehte ich mich in die Richtung des Rufens und löste somit den Blick von der Rose. Als ein weiteres Rufen zu vernehmen war, erkannte ich, dass es meine Kameraden waren, die nach mir suchten. Glücklich über ihre Sorge teilte ich ihnen mit einem lauten „Hier!“ mit, dass sie mich gefunden hatten. Wenige Sekunden später entdeckte ich den Schein von Taschenlampen im durchgehenden Braun des Staubnebels. Ich wollte gerade auf meine Freunde zulaufen, als mir die Rose einfiel. Ich drehte mich noch einmal zu ihr um. Doch anstatt ihr ein blutrotes Blütenblatt zu entreißen und somit sie und ihre perfekte Erscheinung zu zerstören, kramte ich in meiner Hosentasche nach etwas. Kurze Zeit später stießen meine Finger auf das, was ich suchte. Fröhlich zog ich eine kleine Phiole Wasser hervor und öffnete ihren Verschluss. Doch anstatt das Wasser zu trinken, streckte ich meine Hand in das Loch und goss den gesamten Inhalt über die Rose. Ich sog noch ein letztes Mal ihre Erscheinung auf und murmelte: „Auf dass du lange Leben wirst“, bevor ich zu meinen Freunden und wieder in den heißen, braunen Staub lief. Doch diesmal nicht verzweifelt und einsam, sondern mit Hoffnung und Lebensfreude wie vor der Katastrophe.